soziales_kapital
wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit
Nr. 3 (2009) / Rubrik "Sozialarbeitswissenschaften" / Redaktion
Printversion: http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozialeskapital/article/viewFile/154/221.pdf


Meinrad Winge:

Netzwerk-Metaphern: Was geschieht in sozialen Netzwerken?


Systemtheoretische Überlegungen zur Verschränkung von Kommunikation und Transfer

Einleitung
Anlass zu folgenden Überlegungen war eine praktische Frage: Wie lassen sich soziale Unterstützungsnetzwerke evaluieren? Geht es darum, ob und wie die Beteiligten das Netzwerk als hilfreich erleben - oder ob und wie es Hilfe leistet? Das kann ziemlich auseinander gehen: Schließlich wäre es denkbar, dass etwa eine Eltern-Plattform bislang kein einziges Kinderbett, Spielzeug oder Kleidungsstück erfolgreich über ihre Tauschbörse vermittelt hat; und dennoch wird sie vielleicht sehr geschätzt - wegen der darin geführten Gespräche, geteilten Erfahrungen und Gefühle. Deren Austausch bleibt aber unwägbar, unmessbar: Eine getauschte Idee, eine kleine Anregung kann für die eine Beteiligte entscheidend sein - für den andern bringt sie gar nichts (und nicht einmal das lässt sich mit einiger Sicherheit feststellen).

Hinter der praktischen Frage der Evaluierbarkeit vermute ich eine theoretische, die ich hier verhandeln will: Offenbar besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen Kinderbetten und Ideen. Wenn der eine der anderen ein Kinderbett gibt, hat sie es (nämlich genau dieses) und er hat es nicht mehr. Ein Transfer hat stattgefunden. Wenn die eine dem andern eine Idee gibt (oder ihn auf eine Idee bringt?), konstruiert hingegen dieser selbst etwas Eigenes, auf der Basis ihres Impulses. So sieht es die Systemtheorie: Die Metapher von Absender-Paket(Botschaft)-Empfänger wird für das Geschehen von Kommunikation als unpassend und irreführend verworfen. Ersetzt wird sie durch das Bild vom System/Umwelt-Verhältnis: Jedes lebende System funktioniert nach seinen eigenen, inneren Regeln, in sich geschlossen, wie ein Ökosystem. Es braucht aber Impulse anderer, die ihm Umwelten sind, um sich selbst zu regulieren, zu re-produzieren. Solche Umwelt-Impulse können nie eins zu eins "ankommen", nie etwas zwingend bestimmen oder auslösen, nie determinieren, instruieren. Sie bleiben unspezifische Anregungen oder Störungen, "Perturbationen" (vgl. Maturana 1978, S. 242 ff.), Rohmaterial für die spezifischen Eigenkonstrukte des ihnen ausgesetzten Systems.

Diese systemtheoretische Sicht von Kommunikation halte ich für plausibel und nützlich. Sie fördert Bescheidenheit (hinsichtlich der Wirkung von Beratung etwa), Respekt und das Bewusstsein der Freiheit, der eigenen und der der anderen. Nur: Kommunikation (im systemtheoretischen Sinn) ist nicht alles, was in sozialen Netzwerken vor sich geht. Meine These lautet daher:

Neben der Ebene der nicht-zurechenbaren Kommunikation hat in den meisten sozialen Netzwerken auch die des gerichteten, realen Transfers Bedeutung, neben dem ortlosen Spiel der Konstrukte und Narrative auch der bestimmbare Prozess determinierender Übertragungen, neben den nicht-instruktiven Perturbationen spielen kausal wirkende Performationen oft eine wichtige Rolle. Für die Betrachtung und Evaluierung von Netzwerken (wie auch für die Intervention generell in soziale Systeme) ist es von entscheidender Bedeutung, diese beiden Ebenen zu unterscheiden. Sie stehen aber zueinander auch in einer Beziehung, die am ehesten als Verschränkung vorstellbar ist.

Die Systemtheorie bestreitet diese zweite Ebene (des Transfers) keinesfalls, hat sich aber für sie bisher wenig interessiert. In der Folge droht sie, theoretisch wie in ihrer praktischen Relevanz (auch für die Ebene der Kommunikation), übersehen bzw. vernachlässigt zu werden.

In diesem Zusammenhang will ich hier zwei Fragen nachgehen:

1. Wie lassen sich die Ebenen von Kommunikation und Transfer unterscheiden?

2. Wie kann die Ebene des Transfers im systemtheoretischen Rahmen gesehen, stärker beachtet und mit der Ebene der Kommunikation zusammengeschaut werden?

Die Unterscheidung und die Koppelung der beiden Ebenen systemtheoretisch zu präzisieren ist nicht zuletzt deshalb mein Anliegen, weil sich, weit hinausgehend über Evaluierungsfragen von Netzwerken, die Arbeitsfelder und Methodiken Sozialer Arbeit insgesamt gerade von der Verschränkung der beiden Ebenen her verorten und auffächern ließen. Die Besonderheit Sozialer Arbeit wird ja oft - im Vergleich zu anderen Bereichen (wie Rechts- oder Gesundheitssystem, Psychotherapie...) - mit dem pauschalen Schlagwort von der "Ganzheitlichkeit des Zugangs" charakterisiert. Die Klärung der Ebenen von Kommunikation und Transfer könnte dazu beitragen, diese Ganzheitlichkeit näher zu spezifizieren.

1. Alles Kommunikation?
Netzwerk ist zunächst eine Metapher für ein komplexes Geschehen von Austausch und Wechselwirkung. Unterschiedliche Bilder können dadurch evoziert werden: etwa das in sich statische Fischernetz, ein komplizierter Schaltplan elektrischer Leitungen, die Verästelungen einer Darstellung des Nervensystems oder des Blutkreislaufs, die Strahlen eines diagnostischen Soziogramms relevanter Bezugspersonen, die wechselnden Formationen von Gästen einer Party, ihr Beziehungsgeflecht, ihre Gespräche mit- und übereinander.

1.1 Vernetzter Transfer von Mitteilungen ist noch keine Kommunikation
Ich will zunächst zwei Netzwerk-Bilder herausgreifen. Zuerst ein technisches, indem es dennoch zentral um menschliche Entscheidungen geht: An der FH Klagenfurt gibt es die Studienrichtung "Telematische Netzwerke", ein Freund von mir lehrt dort, er hat in den letzten Jahren an der Entwicklung von Verkehrsleitsystemen mitgearbeitet. Ich verstehe nicht viel von dem, was er darüber sagt, aber in mir entstehen utopische Bilder eines telematischen, also etwa "sich elektronisch fernsteuernden" Netzwerks der Zukunft: Menschen entscheiden, wann sie mit ihren Fahrzeugen welches Ziel erreichen wollen - und geben das sozusagen ihren miteinander vernetzten GPS ein. Ein solches Netzwerk könnte nicht nur Abfahrtszeiten und Routen, sondern auch jeweiliges Tempo und Fahrverhalten optimieren, indem es dieses dann auch - telematisch, automatisch - gleich selbst übernähme. Nicht mehr die Menschen, sondern Datenträger führen, lenkten, gäben Gas und bremsten - sie können es besser - nach einem präzisen Plan im Sinne von Stauvermeidung, Zeitmanagement, Nutzung von Synergien, Energiesparen und Verkehrssicherheit.

Was ließe sich über ein solches Netzwerk sagen? Man könnte vermuten, ich spiele hier auf die Differenz zwischen trivialen, also maschinellen, und nicht-trivialen, also lebenden Systemen nach Heinz von Foerster (1988) an; darauf, dass in die einen instruktiv interveniert werden kann, in die anderen hingegen keinesfalls. In anderen Worten darauf, dass Maschinen programmierbar sind, Lebewesen aber nicht. Das hat hier natürlich Bedeutung, aber damit ist nicht alles erklärt: Denn immerhin sind es auch in diesem utopischen Beispiel Lebewesen, Menschen, die miteinander in Verbindung stehen, etwas vereinbaren; die Elektronik dient ihnen nur als Werkzeug, als Rechner. Theoretisch könnten die Beteiligten ja auch persönlich, in einer festgesetzten Verfahrensweise, miteinander Optimallösungen suchen - und mittels verbindlicher Regeln (etwa durch Fahrlizenzen) ihre Einhaltung sicherstellen. Nicht anders, als man unter Freunden mit den Terminkalendern in der Hand einen Termin ausmacht - oder aber sich im Internet per Doodle-Programm koordiniert. Die Maschinen, könnte man sagen, stellen bloß sicher, dass die vorher festgelegten Vorrangs-, Gewichtungs- und Interpretationsregeln auch eingehalten werden. Die Netzwerk-Metapher steht in einem solchen telematischen Netzwerk jedenfalls für das Fließen von Mitteilungen in alle Richtungen, und zwar im Sinne jeweils gerichteter, der Seite des Absenders asymmetrisch zurechenbarer Vektoren, deren Wirkung definierbar und nachvollziehbar ist. Sich aktiv ins Netzwerk einzuschalten, bedeutet, überprüfbar, beobachtbar etwas zu bewirken, zu handeln, eine Übertragung, einen Transfer zu bewerkstelligen. Damit ist aber auch beschrieben, was die Vorgänge in einem solchen Netzwerk, systemtheoretisch gesehen, nicht sind: nämlich Kommunikation.

1.2 Kommunikation als "Sonderfall von Informationsverarbeitung"
Bildwechsel: Eine der gängigen Nutzungen der Netzwerk-Metapher im aktuellen gesellschaftlichen Leben ist der Begriff networking. Dazu tauchen andere Bilder auf als im vorigen Beispiel: Denken wir uns ein After-Office-Chillout in einem innerstädtischen Palais, mit Stehtischen und Sitznischen, Stuck und Design, Prosecco und Canapés, gedämpft Jazzigem und vielen Menschen aus der Welt der Geschäfte und angrenzender Disziplinen wie Geistesleben, Politik, Wissenschaft, etc. Was sie dort tun, nennen sie eventuell networking, und das kann vieles sein: miteinander reden, trinken, essen, sich bekannt machen, flirten, mögliche Geschäftspartner abklopfen, Gerüchte aushorchen, Hypothesen in die Welt setzen, Kooperationen anbahnen, Jobs vermitteln, Trends interpretieren etc. Wenn hier etwa im Gespräch zweier Menschen eine Idee geboren oder gar ein Projekt erfunden wird, ist deutlich, dass schon für jede kleine Phase ihrer Unterhaltung, für jeden Satz, jedes Wort, unentscheidbar bliebe, wer denn nun dabei Akteur, wer der oder die Handelnde wäre: die Mitteilende oder der Verstehende.

Denn hier findet präzise statt, was der systemtheoretische Begriff der Kommunikation laut Luhmann bezeichnet: "ein symmetrisches Verhältnis mehrerer Selektionen" (Luhmann 1984, S. 227), "koordinierte Selektivität" (ebenda, S. 212). Was immer die eine sagt, wird vom andern auf seine Weise, selbstreferentiell, verarbeitet, ist ihm Anregung (oder auch Störung, ein "Rauschen", eben Perturbation im Sinne der System/Umwelt-Relation), die bewirkt, dass er "seinen Eigenzustand auf Grund einer mitgeteilten Information festlegt " (ebenda, S. 212) - also eine Auswahl, sprich: Selektionen trifft. Luhmann nennt das auch "doppelte Kontingenz", und meint damit eine Situation, in der zwei Beteiligte aus dem jeweiligen Kontingent ihrer Optionen wählen können - sich damit dabei gegenseitig beeinflussend. Kommunikation ist daher ein nicht einseitig zurechenbares Geschehen, so wie das Handlungen sind. "Wir denken normalerweise Kommunikation immer schon zu sehr als Handlung und können uns daraufhin Kommunikationsketten wie Handlungsketten vorstellen. Die Wirklichkeit eines kommunikativen Ereignisses ist jedoch sehr viel komplexer. Es setzt die Handhabung der doppelten Kontingenz (...) auf beiden Seiten voraus, es wird während einer gewissen Zeit in Schwebe gehalten, mag Rückfragen, bedeutsames Schweigen, Zögern erfordern, bevor es durch Verstehen zum Abschluss kommt; oder es mag, obwohl die Mitteilung als Handlung vorliegt, als Kommunikation scheitern." (ebenda, S. 232) In Kommunikation werde, so Luhmann, Handlung hineingelesen, Kommunikationssysteme würden als Handlungssysteme ausgeflaggt (ebenda, S. 226), anders wären nicht einmal Selbstbeobachtung und in der Kommunikation mitlaufende Selbstkontrolle möglich. Aber dennoch bleibe das Zuschreibung, Übertragungs-Metaphorik, denn "Kommunikation ist symmetrisch insofern, als jede Selektion die andere führen kann und die Führungsverhältnisse laufend umgekehrt werden können" (ebenda, S. 227).

Ein bisschen ist es wie beim heftigen Knutschen - wer könnte sagen, wer da wen küsst? Und tatsächlich gilt das alles keinesfalls nur für das gesprochene Wort: "Kommunikation ist unter der gleichen Bedingung auch ohne Sprache möglich, etwa durch ein Lächeln, durch fragende Blicke, durch Kleidung, durch Abwesenheit und ganz allgemein und typisch durch Abweichen von Erwartungen, deren Bekanntsein man unterstellen kann. Immer aber muss die Mitteilung als Selektion, nämlich als Selbstfestlegung einer Situation mit wahrgenommener doppelter Kontingenz interpretierbar sein. Es fehlt daher an Kommunikation, wenn beobachtetes Verhalten nur als Zeichen für etwas anderes aufgefasst wird. Rasches Gehen kann in diesem Sinne als Zeichen für Eile beobachtbar sein, so wie dunkle Wolken als Zeichen für Regen; es kann aber auch als Demonstration von Eile, Beschäftigtsein, Unansprechbarkeit usw. aufgefasst und mit der Absicht, eine solche Auffassung auszulösen, auch produziert werden." (ebenda, S. 208f) Entscheidend sei, so Luhmann, "die in aller Kommunikation eingebaute Differenz von Information und Mitteilung. Die Kommunikation prozessiert sozusagen diese Differenz" (ebenda S. 209). Deshalb könnte die Systemtheorie in unserem Beispiel vom telematischen Verkehrsleitsystem trotz aller Reziprozität und verschlungener Feedback-Schleifen, trotz der Dichte der hin und her laufenden Mitteilungen niemals von einem Kommunikationsnetzwerk sprechen. Warum? Der elektromagnetische, telekommunikative Impuls des sendenden Geräts, also die Mitteilung, wäre für das Empfängergerät mit der empfangenen Information ident - und fiele auch eins zu eins zusammen mit dem, was es "versteht" . Damit ist die Möglichkeit für Kommunikation verschwunden, denn "der Einbau dieser Differenz macht Kommunikation erst zur Kommunikation, zu einem Sonderfall von Informationsverarbeitung schlechthin" (ebenda, S. 198).

2. Fehlt etwas?
Genug der kleinen Luhmann-Auffrischung - fürs Erste. Kürzlich hat ein Student im Seminar an einer ähnlichen Stelle in eine Pause hinein gefragt: Und - was sagt man heutzutage dazu, was ist aus diesem Ansatz geworden? Eine gute Frage und - obwohl die Systemtheorie gut 25 bis 30 Jahre auf dem Buckel hat - keine leichte Antwort. Einerseits hat sich das systemische Paradigma breit durchgesetzt. Nur in diesem Kontext kann etwa der Inklusion/Exklusion-Diskurs Sinn machen, der einen lebenswelt-orientierten Integrations-/Desintegrationsbegriff weitgehend abgelöst hat. Hinter die Systemtheorie zurückzugehen scheint nicht mehr möglich - schon gar nicht, wenn es um soziale Netzwerke geht. Andererseits steigt seit etlichen Jahren etwas wie Unbehagen und Revisionsbedarf an die Oberfläche der Debatten - und damit meine ich gar nicht die teilweise sehr heftigen Einsprüche seitens der erklärten Luhmann-Gegnerschaft, etwa der Mario Bunge-Followers rund um Silvia Staub-Bernasconi (vgl. etwa Staub-Bernasconi 2000). Auch bei den FreundInnen und NutzerInnen der Systemtheorie ist manches in Bewegung, neue Akzentsetzungen bahnen sich an. Dabei meine ich aus den unterschiedlichen Vorschlägen eine gemeinsame Tendenz herauszulesen, die weiter zu treiben ich für geboten halte.

2.1 Material, Boden, Raum: un-systemische Impulse für die Systemtheorie
Insgesamt geht es, scheint mir, um die Neugewinnung oder doch Neubeachtung der Dimension des Materialen, des Nicht-Dekonstruierbaren, des Sperrig-Realen, Begrenzten und Begrenzenden. In einem anderen Bereich, dem der Kunst, hat der Medienwissenschafter und Philosoph Boris Groys anlässlich seiner Berufung als Rektor an die Wiener Akademie der Bildenden Künste schon 2000 dem berühmten "anything goes" Paul Feyerabends seine Absage erteilt, der Unendlichkeit virtueller Welten, Deutungen und Kommunikationen die Endlichkeit der Kapazität von Glasfiberkabeln und Speicherplätzen entgegengesetzt, vom Ende der Postmoderne gesprochen und vom erwachenden Interesse am Material, seinen Widerständigkeiten und Grenzen, seiner Realität (vgl. auch Groys 2000).

In der Sozial(arbeits)wissenschaft scheint mir seit einiger Zeit Ähnliches angesagt: Es geht quasi um das Mitbeachten des Bodens im Unterschied zum Horizont. Damit kommen zwei Metaphern Edmund Husserls für das Erscheinen der Welt ins Spiel, die Janö Bango 2001 zur Frage des Weltbegriffs Sozialer Arbeit, sprich: zur Auseinandersetzung zwischen "Lebenswelt" versus "soziale Systeme" gebraucht hat: "Der Horizont bleibt unerreichbar, weil, je mehr man sich ihm nähert, er desto mehr in die Ferne rückt. Lebenswelt sollte aber erreichbar und erlebbar werden. Der Boden suggeriert eine begrenzte Räumlichkeit" (S. 34). Luhmann, so bedauert Bango, hatte mit dem Raumbegriff Schwierigkeiten. Er, der "in seiner Theorie sozialer Systeme nur drei Sinndimensionen ins Auge gefasst hat: sachliche, zeitliche und soziale" (ebenda), liebte hingegen die Horizont-Metapher und konstatierte etwa für soziale Systeme "einen eigenen Kommunikationshorizont, der ein Fortschreiten ermöglicht, aber nie erreicht wird" (Luhmann 1984, S. 226).

In der Frage der Sinndimensionen fordert auch der Systemtheoretiker Rudolf Stichweh bereits 1998 eine Ergänzung um "die soziale Leitunterscheidung von Ferne und Nähe": "Es kann für die soziale Relevanz einer Sache oder einer anderen Person einen erheblichen Unterschied machen, ob diese nah oder fern sind" (S. 44, nach Bangö, S. 34). Ein schlichter, aber schwerwiegender Satz, der genau unsere Frage berührt. Denn welche Relevanz hat es tatsächlich für Kommunikationen als Mitteilungs-Informations-Verstehens-Einheiten, ob sie etwa im Internet oder rund um einen Tisch stattfinden? Handelt es sich hier um mehr als einen Wechsel des Mediums? Worin lässt sich die behauptete soziale Relevanz denn festmachen, falls es sie gibt? Das könnte eine Spur sein, die zur Bedeutung der Ebene des Transfers führt.

2.2 "Soziale Adresse" oder "Mensch"? Versuche der Ergänzung eines rein kommunikativ-funktionellen Modells
Um die angesprochene Tendenz zu verdeutlichen, verweise ich auf zwei Stimmen, die für mich in eine ähnliche Richtung weisen. Sie versuchen, die Systemtheorie um ganzheitliche Gesichtspunkte (Begriffe wie Mensch, Lebenswelt, Integration) zu ergänzen, was meines Erachtens als Parallele zum hier versuchten Herausarbeiten der Bedeutung einer zweiten Ebene, neben der der Kommunikation, verstanden werden kann. Denn wo die Systemtheorie ausschließlich auf die Ebene der Kommunikation fokussiert, interessiert der Mensch nicht als gesamte bio-psycho-soziale Einheit, sondern kommt bloß als kommunikativ produzierter, funktionaler Knotenpunkt der Kommunikation im sozialen System, als Person, als soziale Adresse in den Blick. "Nicht Menschen, so eine der Grundannahmen der Systemtheorie, sondern Kommunikationen kommunizieren und strukturieren sich dabei durch Adressierung von Personen als intern erzeugten Zurechnungspunkten." (Farzin 2006, S. 103) Person ist "die Bezeichnung der sozialen Identifikation eines Komplexes von Erwartungen (...), die an einen Einzelmenschen gerichtet werden" (Luhmann 1984, S. 286). Kritik an diesem rein auf die Funktionalität der Kommunikation ausgerichteten Modell kann daher auch als Versuch gelesen werden, eine andere Ebene stärker mit zu beachten.

Es scheint vor allem das hier so benannte Biologisch-Materiale, die physisch-psychisch-soziale Gesamtheit des Menschen zu sein, die im systemtheoretischen Modell sozialer Funktionssysteme der Aufmerksamkeit zu entschwinden droht. Ein zweites aktuelles Beispiel:

Obwohl das Splitten in eine praxis- und eine theorietaugliche Begrifflichkeit unbefriedigend bleibt, ist das Anliegen doch nachvollziehbar: Die Forderung nach methodischer Multidimensionalität könnte bedeuten, dass die kommunikative Schiene als einzige Interventionsebene eben zuwenig ist...

3. Die zweite Ebene - ihr Platz in der Systemtheorie
Wie könnten wir die nun vielfach angesprochene Bedeutung der zweiten Ebene herausarbeiten, ohne die Plausibilität der systemtheoretischen Perspektive damit verlassen zu müssen? Wie lässt sich in die systemtheoretische Analyse des Geschehens sozialer Netzwerke die Ebene des Materialen, des realen Transfers, der Räumlichkeit und Körperlichkeit so hereinholen, dass ihre Bedeutung angemessen beachtet werden kann?

3.1 Kommunikation und Transfer - am Beispiel von Einfluss und Zwang
Dazu scheint es mir am praktikabelsten, an jene ausführlichen systemtheoretischen Überlegungen anzuknüpfen, die einem ganz spezifischen Themenkomplex gelten: nämlich die Überlegungen zum Thema Einfluss (Luhmann spricht von Macht) und Zwang (respektive Gewalt).

Der Grund für die exemplarische Wahl gerade dieses Teilbereichs, den ich erweitern und verallgemeinern will: Er kann am besten als Modell für das Verhältnis von Kommunikation und Transfer generell genutzt werden. Denn bei diesem Themenkomplex ist das Zueinander (Unterscheidung wie Koppelung) von kommunikativem Konstruieren und real-kausalem Bewirken besonders unumgänglich klärungsbedürftig. So sehr es nämlich einleuchten mag, dass es generell keine Möglichkeit der instruktiven Intervention in lebende Systeme geben kann, so fragwürdig wird das für manche, wenn das auch für Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse gelten soll. Handelt es sich denn tatsächlich um ein kommunikativ erzeugtes Konstrukt, eine Zuschreibung, wenn eine geschlagene Frau sagt, sie könne sich ihres Partners nicht erwehren?

Luhmann hat sich mit dem Thema eingehend befasst (Luhmann, Macht, 1975), das Ergebnis ist bekannt: Macht ist demnach ein Kommunikationsmedium, das die Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Selektionszusammenhänge steigert (vgl. ebenda, S. 12). Wir befinden uns also, selbst wenn das Machtverhältnis mit einer vorgehaltenen Pistole zu tun hat, noch immer auf der Ebene der Kommunikation, des Einflusses, der "koordinierten Selektivität" (wie der Spruch "Geld oder Leben!" schon zeigt). Der Pistolero wie der/die Bedrohte, beide legen ihren Eigenzustand auf Basis der Selektionen des/der anderen selbstreferentiell fest. (Jan Philipp Reemtsma, der in seinem jüngsten Werk "Vertrauen und Gewalt" 2008 unter anderem Luhmanns Überlegungen brillant entfaltet, spielt das entlang einer Mafioso-Episode einleuchtend durch. Reemtsma 2008, S. 455ff) Erst der Pistolenschuss würde das Verhältnis des Einflusses, der Macht beenden, die Optionen - wohlgemerkt beider Beteiligter! - auf Null stellen. Gewalt beendet Macht. Zwang beendet Einfluss - und damit Selektivität, Kommunikation. "Die Gewalt spricht nicht", wie Reemtsma schon 2000 einen Vortrag betitelte (Reemtsma 2000, S. 7). Zwang (also nicht nur zu töten, sondern etwa auch einzusperren, hinzuschleppen oder wegzutragen), alles, was keine Möglichkeit zur Selektion lässt, bedeutet Ersatz-Handeln, das Einspringen "eigenen Handelns für unerreichbares Handeln anderer" (Luhmann 1975, S. 9) und bindet zugleich den, der Zwang ausübt, sodass auch seine Selektionsmöglichkeit beendet ist.

Was ist durch eine solche Sicht der Dinge gewonnen?

Zwang ist hier nicht mehr eine der Bedingungen unter anderen, die Einfluss/Macht ermöglichen, "kann deshalb nicht einfach als 'letztes Mittel' auf einer Skala zunehmender Pressionen begriffen werden" (ebenda, S. 61): Er ist scharf unterschieden von Einfluss/Macht, gehört in eine andere Sphäre der Realität.

Diese Differenz ist keine moralische: Ein Kleinkind unter der Drohung des endgültigen Verlassens oder mit unhaltbaren Versprechungen und Lügen von einem bestimmten Supermarkt-Regal wegzulocken ist demnach Einfluss/Macht (also Kommunikation), es einfach hochzunehmen und wegzutragen ist Zwang/Gewalt (also Ende der Kommunikation) - und das sagt nichts darüber aus, was davon richtiger ist. Dennoch bleiben beide Ebenen auch miteinander verbunden: "Macht hat eine spezifische Beziehung zu physischer Gewalt" (ebenda, S. 62). Es wäre absurd zu glauben, dass man "in Fragen der Macht schlicht ignorieren kann, wo die überlegene Fähigkeit zur Ausübung physischer Gewalt sitzt"(ebenda).

3.2 Operational geschlossen - energetisch offen: Perturbation und Performation
Björn Kraus geht nun genau von dieser systemtheoretischen Analyse des Macht/Gewalt-Komplexes aus (Kraus 2002, S.173ff), ergänzt sie aber um eine für meine These wichtige Schlussfolgerung:

Wenn in diesem Komplex die Frage der Selektivität die Trennlinie zwischen Macht/Einfluss und Gewalt/Zwang bildet, dann trennt sie zwei Bereiche von ganz unterschiedlichem ontologischem Status: auf der einen Seite stehen Konstrukte, auf der anderen harte Realitäten. Auf der einen Seite geht es um Perturbationen (Anregungen, Störungen), die die Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Selektionen steigern, aber nichts und niemanden determinieren können, nicht einmal mit Drohungen oder Erpressung. Auf der anderen Seite, der Seite der gekappten Selektivität, geht es allerdings - und das ist nun der entscheidende Punkt - um sehr viel mehr als um das, was üblicherweise mit Gewalt oder Zwang bezeichnet wird.

Um das zu begreifen, so Kraus, ist es nötig sich zu vergegenwärtigen, dass lebende Systeme trotz operationaler Geschlossenheit ihrer Kognition unumgänglich energetisch offen sind (vgl. Kraus 2002, S. 178ff). Kraus zitiert Böse/Schiepek (2000): "Lebende Systeme bedürfen trotz operationaler Schließung einer Umwelt, um existieren zu können. Die Umwelt muss die physikalischen Elemente bereitstellen, die das lebende, autopoietische System zur Produktion seiner Bestandteile benötigt. Bezüglich des Energie- und Materieaustauschs sind lebende Systeme also offen." (Böse/Schiepek 2000, S. 175). In anderen Worten: Lebende Systeme sind nicht instruierbar, aber sie sind destruierbar bzw. deformierbar.

In der Folge heißt das: In ein erweitertes Verständnis von Gewalt und Zwang (im Sinne von Entzug der Selektionsmöglichkeit) fällt nicht etwa bloß, jemandem wörtlich die Hände zu binden, sondern ebenso, ihm auf andere Weise den Zugang zu bestimmten Ressourcen zu verwehren - und sei es dadurch, diesen Zugang vor ihm zu verbergen. Um im Beispiel der Erziehung zu bleiben: Nicht nur das Aufheben und Wegtragen eines Kindes beendet die Selektivität und schafft harte Realitäten - ebenso wenig dekonstruier- oder umdeutbar ist etwa die Entfernung des Gameboys, die Taschengeldkürzung oder das Absagen des bereits fixierten Fahrradkaufs. Eine solche Sanktion ist auf der Ebene der Kommunikation natürlich eine (pädagogische) Botschaft, Anregung, Störung, eine unspezifische Perturbation, die das Kind auf seine Weise verstehen, umdeuten, ignorieren, erst recht anstacheln etc. kann. Gleichzeitig ist diese Sanktion aber auch auf einer zweiten Ebene bedeutsam - und zwar kausal determinierend: Ohne Fahrrad lässt sich ganz faktisch real nicht in den Nachbarort radeln, das kann man auffassen, wie man will. Ja, auch vorenthaltene Information ist so gesehen nicht nur Teil von Kommunikation, sondern hat auf einer anderen Ebene determinierende, zwingende Wirkung.

Natürlich wird auch schon von Luhmann diese zweite Ebene, neben der Ebene der Kommunikation, gesehen, etwa in der Analyse der Kommunikationsmedien, aber nur in ihrem "symbiotischen Bezug" (Luhmann 1975, S. 62), wie er es nennt, für die symbolische Ebene der Kommunikation. Der Kommunikationsebene liefert sie die spezifischen "Bedingungen und Beschränkungen der Selektivität", welchen "die am Kommunikationssystem Beteiligten" "auf Grund ihrer physisch-organischen Existenz" (ebenda, S. 61) unterliegen; sozusagen als zu verhandelnde Problemstellung, als Kommunikationsstoff. Im später von Luhmann ausgeführten Konzept der Interpenetration sozialer, physisch-biologischer und psychischer Systeme (Luhmann 1984, S. 286ff) - ähnlich wie in dem der strukturellen Koppelung Humberto Maturanas (Maturana 1978, S. 104f) - ist das Mit- und Ineinander der Ebenen ebenfalls zu finden. Dabei wird aber kaum auf deren spezifische Unterschiede eingegangen und das Konzept ist generell wenig ausgearbeitet.

Kraus bezeichnet diese Ebene, die Seite jenseits der Trennlinie der Selektivität, wo es also um die harte, nicht-konstruierte und daher auch nicht-dekonstruierbare Seite der Realität geht (bei Luhmann: Gewalt und Zwang), unglücklicherweise als "destruktive Macht" (Kraus 2000, S. 136ff). Tatsächlich geht es hier um Destruktion - aber nicht um Macht: denn die ist, im Sinne von Einfluss, stets Kommunikation und hat also nicht mit Destruktion, sondern mit Konstruktion zu tun. Kraus' Überlegung erweitert vielmehr plausibel die Vorstellung von akutem Zwang in Richtung Entzug, latenter Mangel, vorenthaltene Zugänge, strukturelle Gewalt. Da wird gestoppt, beschnitten, vorenthalten, verweigert - und damit letztlich deformiert oder zerstört. Ich will in diesem Zusammenhang von Deformation bzw. allgemeiner von Performation (Verformung) sprechen - als von einem Eingriff, der ein System, im Unterschied zur Perturbation, nicht anregt oder verstört, sondern in seiner realen, materialen Tatsächlichkeit verändert, umformt, verformt. (Zum Begriff: Als "performativ" werden etwa in der Linguistik Sprechakte oder Gesten bezeichnet, die unmittelbar und zwingend, kausal, innerhalb eines bestimmten Kontextes eindeutig, reale Folgen zeitigen: das Hochzeits-Jawort, der Daumen nach unten in der Arena, die Taufformel etc.)

Dass ein und derselbe Akt auf der Ebene der Kommunikation als Perturbation wirksam sein und gleichzeitig auf einer zweiten Ebene (des Transfers) als Performation Bedeutung haben kann, wurde bereits angedeutet.

4. Gesucht: eine Phänomenologie des Transfers
4.1 Eigengesetzlichkeiten des Energie- und Materieaustausches
Björn Kraus beschränkt sich in seiner Erweiterung des Begriffs von Zwang streng auf die Destruktion, auf negative Einwirkungen - damit baut er dem Missverständnis vor, positive Determinierung im Sinne einer instruktiven Interaktion in die kognitive Geschlossenheit lebender Systeme wäre doch irgendwie möglich. Diese Beschränkung auf die negative Seite erscheint mir aber unnötig: Denn hier geht es ja gar nicht um Transaktionen auf der kognitiven, operationalen Ebene, auf der Kommunikation stattfindet, sondern um jene auf der Ebene des Energie- und Materieaustausches - ich habe sie daher die Ebene des Transfers genannt. Wenn nun die Ebene des Transfers mit ihren anderen Gesetzen (reale, kausale, einseitig zurechenbare Akte...) unverwechselbar klar von der kognitiven, kommunikativen Ebene unterschieden wird (vgl. Maturana 1998, S. 14), halte ich es für legitim zu fragen, ob denn auf ihr wirklich nur negativ, destruktiv determiniert werden kann: Bedeutet einen Teil vorzuenthalten nicht immer auch, einen anderen Teil zur Verfügung zu stellen? Oder umgekehrt: Etwas zu geben - heißt das nicht automatisch, ein Mehr davon vorzuenthalten? Ist das spärliche Zur-Verfügung-Stellen von Materie oder Energie (z.B. Tageslicht oder Wasser für eine Pflanze) eine Zufuhr oder ein Entzug? Das kommt im Grunde auf dasselbe hinaus: Jede Zufuhr wie jeder Entzug erzielt gerichtet, asymmetrisch, kausal Wirkungen - ist also, auf dieser Ebene, ein Transfer und als solcher performativ. Er muss nicht als Handlung ausgeflaggt werden, er ist Handlung.

Ebenso wichtig wie die Unterscheidung der beiden Ebenen ist ihr Verhältnis zueinander, ihre Verbindung: Es ist unbestritten, dass Zwang (bzw. die Möglichkeit, ihn auszuüben), für das Kommunikationsgeschehen des Einflusses/der Macht Bedeutung hat. Die Ebenen von Kommunikation und von Transfer, obwohl scharf voneinander zu unterscheiden, sind in diesem Komplex dennoch miteinander verknüpft. Es ist aber nicht einzusehen, warum nur Zwang/Gewalt und nicht auch andere performative Transfers des Energie- und Materieaustausches, des Entzugs und der Zufuhr, für das (auf der symbolischen Ebene stattfindende) Kommunikationsgeschehen bedeutsam werden könnten. Nochmals ein Beispiel dazu aus dem Bereich der Erziehung von Kindern: Seit etlichen Jahren sind Konzepte für die Rückgewinnung elterlicher Autorität ohne Gewalt, dort, wo sie "unlenkbar" gewordenen Heranwachsenden gegenüber bereits völlig verspielt wurde (vgl. etwa Omer/Schlippe 2008/2002 und dieselben 2006), sehr gefragt. Natürlich spielt Kommunikation da eine große Rolle - aber nicht nur: Im Wesentlichen funktionieren diese Konzepte auf der Basis elterlicher Präsenz. Präsenz ist aber eben mehr bzw. etwas anderes als Kommunikation. Sie spricht nicht (nur) - ähnlich wie die Gewalt, sondern realisiert sich auf einer basalen, "unmissverständlichen", nicht-symbolischen Ebene des Transfers. Unter oder neben der Kommunikation, jedenfalls unterschieden davon und doch verknüpft damit, geht es gerade bei der Rückgewinnung elterlicher Erziehungsfähigkeit um reale Transfers bzw. die Möglichkeit dazu: etwa Sicherstellung, Portionierung, Drosselung, Entzug, vor allem aber Zufuhr von räumlicher Nähe, reservierter Zeit, von medialem oder körperlichem Kontakt, von materiellen Zuwendungen, organisierten Erlebnissen, Nahrungsmitteln, Platz, Aufmerksamkeit, etc.

4.2 Die unterschätzte Bedeutung der Transfers
Natürlich können alle diese Transfers auch auf der kognitiven, symbolischen Ebene als Kommunikationen betrachtet werden - so wie jede Gewaltausübung auch als Kommunikation gelesen werden kann (z.B. als Androhung schlimmerer Gewalt). Aber es kann auch wichtig sein, sie auf ihrer eigenen Ebene des Energie- und Materieaustauschs genauer anzusehen. Nochmals zum Vergleich: Jan Philipp Reemtsma setzt sich einerseits ausführlich mit dem Kommunikationscharakter der Gewalt auseinander, mit ihren Botschaften für das Opfer bzw. für Dritte (Reemtsma 2008, S. 453ff). Er hält es aber für besonders wichtig, Gewalt zunächst einmal auf der Ebene ihrer realen, konkreten Erscheinungsformen, ganz einfach phänomenologisch anzusehen; denn diese Betrachtung wird bislang seiner Einschätzung nach völlig vernachlässigt. Ein solcher "Versuch, Gewalt primär aus der Körperlichkeit zu begreifen, ist für die Soziologie neu" (ebenda, S. 105, mit Verweis auf Hannah Arendt in "Macht und Gewalt" 1970), die Soziologie schweige weitgehend zur Gewalt, habe ein Problem mit ihr, "genauer: damit, Gewalt, wie es ihres fachlichen Amtes wäre, primär als soziales Handeln und nicht als moralisches oder politisches Problem zu betrachten" (Reemtsma 2008, S. 458).

Was hier über das Phänomen der Gewalt gesagt wird, kann meines Erachtens auf den gesamten Bereich der Transfers in sozialen Netzwerken ausgeweitet werden: Performative Akte, Transfers, werden zu rasch immer schon als Funktionen von Kommunikation, als deren Bestandteil, verstanden, werden auf ihre Bedeutung als Appell, Anreiz, Angebot, Sanktion etc., auf ihren Symbolwert hin, interpretiert, ohne zunächst einmal in ihren Eigenschaften als Zufuhr, Entzug etc. qualifiziert, in Ihrer speziellen Materialität, in ihrem Fließen, ihren Wegen innerhalb des Netzwerks mitverfolgt und quantifiziert worden zu sein.

4.3 Soziale (Netzwerk)Arbeit koppelt gezielt Kommunikation und Transfer
Erst ein genauerer Blick auf die Erscheinungsformen der Transfers als solche, eine Phänomenologie der Übertragungsformen, - orte, -inhalte und -wege in sozialen Netzwerken also (wie Reemtsma sie für die Gewalt einfordert bzw. skizziert), würde ermöglichen, in der Folge auch ihre Beziehung zum kommunikativen Prozess besser in den Blick zu bekommen. Das kann kaum jemanden mehr interessieren als die Soziale Arbeit: Es ist schließlich ihr erklärtes Geschäft, die Ebenen sowohl der Kommunikation als auch die des performativen Transfers - und vor allem die Verknüpfung beider - planmäßig und professionell zu nutzen; und es macht die Ganzheitlichkeit ihres Zugangs aus, die oft beschworen wird, aber schwer präzise gefasst werden kann. Während nämlich etwa in der Psychotherapie Transaktionen auf der Transfer-Ebene (bereitgestellte Zeit, Aufmerksamkeit, Image, Platz, Zuwendung, Raumatmosphäre, Honorar etc.) einen kaum intendierten und fokussierten (wenn auch, Untersuchungen zufolge, höchstwirksamen!) Nebenfaktor darstellen, der Hauptfaktor hingegen auf der Ebene der Kommunikationen ("erzählte Welt") angesiedelt ist, agieren SozialarbeiterInnen bewusst und gezielt mit beidem: sie vergeben/vermitteln oder rationieren Ressourcen - Geld, Plätze, Kontakte, Infrastruktur, Wohnungen, Infos, Zeit, Aufmerksamkeit oder auch Unbehelligtheit und amtliche Unauffälligkeit. Sie greifen also ein, handeln kausal bewirkend, performativ. Zum anderen arbeiten sie kommunikativ - und dieser Teil der Arbeit folgt völlig anderen Gesetzlichkeiten: da gibt es kein kausales Bewirken, da steuern sie sozusagen Ziele an, ohne das Steuer je in die Hand zu bekommen, können nur anbieten, konfrontieren, beraten, unterstützen und hinweisen. Darin scheint mir auch die Hauptspannung der Profession zu liegen, die alle anderen Spannungsfelder (wie etwa Hilfe vs. Kontrolle) relativiert.

Eine solche Phänomenologie sozialen Handelns auf der Ebene des Energie- und Materieaustauschs würde uns - und damit komme ich auf den Beginn dieser Überlegungen zurück - jedenfalls einen neuen Blick auf jedes der Netzwerk-Beispiele nahe legen: Im ersten Bild vom utopischen Verkehrsleitsystem hat tatsächlich Kommunikation so gut wie keine Bedeutung. Alles dreht sich um performatives Handeln, um Transfers - so wie umgekehrt etwa in einer Internet-Debatte von einander unbekannten TeilnehmerInnen reale Transfers (Zeit, Strom, Speicherplatz) zwar stattfinden, aber kaum wichtig sein dürften. Die meisten Netzwerke aber, die heute tatsächlich mit telematischen Systemen arbeiten, nutzen gezielt Transfer und Kommunikation - denken wir nur an neue Modelle medizinischer Vernetzung von PatientInnen, die mehrmals täglich per Handy ihre Daten an Terminals liefern und gegebenenfalls ärztliche Rückmeldungen bekommen, die aber auch beim täglichen Trainieren etc. mit Mit-PatientInnen in Verbindung stehen, um einander zu motivieren. Aber auch im Netzwerk-Bild von unserer Innenstadt-Party verschränkt sich beides: Da könnte sich Beobachtung/Erforschung der Transfers von Ressourcen - Zufuhren wie Entzüge - sicher ebenso auszahlen wie das Erschließen des kommunikativen Geschehens - voraussichtlich mit anderen Methoden. In diesem Beispiel wird auch deutlich, dass natürlich Gespräche ebenfalls Energie- und Materieaustausch bedeuten - die Einbeziehung ins Gespräch als solches, unabhängig vom Inhalt, ist sogar eine der wichtigsten Ressourcen, die bei solchen Anlässen vergeben werden können. Aber die Tatsache, dass Gespräch, man könnte sogar sagen: dass Kommunikation, weit über die kommunikative Funktion hinaus (oder besser: mit ihr verschränkt) performativen Charakter hat, weiß man ja spätestens seit der Erforschung des Hospitalismus-Syndroms.

Wie könnte eine Phänomenologie des Transfers, des Energie- und Materieaustauschs, denn entwickelt werden? Wo könnte sie ansetzen? Mit seiner Skizze zu einer Phänomenologie von Formen der Gewalt weist Reemtsma eine Richtung, die, weit über diesen Sonderfall von Transfer hinaus, insgesamt verfolgt werden kann. Er fordert die gesonderte Beachtung des physisch-biologischen Systems für sich (gegenüber dem psychischen wie dem sozialen): "Gemeint (mit einer solchen Phänomenologie, M.W.) ist hier nichts weiter als die Beschreibung eines zwischenmenschlichen Verhältnisses, ohne dass diese Beschreibung auf psychische oder soziale Gegebenheiten, auch nicht auf Sinnkonstruktionen (Motivationen, Machtverhältnisse, Schrecken, Lust etc.) Bezug nimmt. Vielmehr geht es um die an Plessner angelehnte Frage: Wie sind soziale und psychische Sinnkonstruktionen durch Gewalt (oder, wie ich allgemeiner fragen will, durch Energie- und Materietransfers, M.W.) möglich? (Plessner, Phänomenologie der Musik) Es geht in diesem Sinne von Phänomenologie um das, was Plessner 'Grundfigur(en) des menschlichen Daseins im Banne des Körpers' nennt (Plessner, Lachen und Weinen, S. 211)." (Reemtsma 2008, S. 106)

5. Ausblick: ein anderer möglicher Zugang zu den beiden Ebenen
5.1 "...Verschränktsein in ein körperliches Ding und einen sozialen Sachzusammenhang" (Plessner)
Kein Wunder, dass Reemtsma beim Versuch, seine Phänomenologie von der Körperlichkeit, vom Physisch-Biologischen her zu entwickeln, gerade auf den lange wenig beachteten Plessner stößt: Helmuth Plessner, ein Widerpart Heideggers, 1933 vor den Nazis geflohen, ab 1951 wieder Professor für Soziologie und Philosophie in Göttingen, ist dafür eine gute Quelle. Bei ihm ist für dieses Anliegen noch weit mehr zu holen als dieser kurze Hinweis Reemtsmas. Auch der hier von mir öfter gebrauchte Begriff der Verschränkung - verstanden als "Einheit zweier heterogener Entitäten (...), die sich in ihrer Divergenz gegenseitig fordern" (Mitscherlich 2007, S. 4) - verdankt sich ihm. In der Verschränkung, im Doppelaspekt von "Körper sein" und "Körper haben" geht Plessner "den Grundfiguren des menschlichen Daseins im Banne des Körpers" (siehe oben) nach und versucht von da her, die Spaltung von Geist und Natur, von Bewusstsein und Sein, von Subjekt und Objekt zu unterlaufen. Und gerade eine solche Perspektive, die Subjektivismus versus Objektivismus hinter sich lässt, ist für eine Analyse der Kommunikationen wie der Transfers in Netzwerken nötig:

"Geht es darum, ob und wie Unterstützungsnetzwerke als hilfreich erlebt werden oder ob und wie sie Hilfe leisten?" Diese Evaluierungsproblematik, die den Anstoß für meine theoretischen Überlegungen gab, lässt ja sofort das alte Problem von subjektiv/objektiv auftauchen. Das damit aufgespannte Entweder-Oder führt aber in die Sackgasse. Gibt es eine Alternative zur Dichotomie von Subjektivität/Objektivität (die nicht nur in der Praxis gewonnen, sondern auch theoretisch begründet werden kann)?

Die Systemtheorie weicht dem Entweder-Oder von subjektivistischer und objektivistischer Perspektive aus mit dem Verweis auf den prinzipiellen Konstruktionscharakter von Wirklichkeiten (in unterschiedlichen "Härtegraden"). Und sie macht darauf aufmerksam, dass es beim Sozialen, Psychischen und Physisch-Biologischen um jeweils in sich geschlossene Systeme geht, die einander wechselseitig Umwelten sind und Perturbationen liefern.

Plessner versucht sich auf andere Weise des Dualismus von Subjekt und Objekt zu entwinden. Dieses Projekt, könnte man sagen, verbindet ihn gewissermaßen mit dem systemisch-konstruktivistischen Ansatz. Er kommt nur quasi von der gegenüberliegenden Seite her, nicht vom Bewusstsein, sondern von den materialen, physischen Gegebenheiten. Sichtbar wird das etwa in seinem Person-Begriff, der sich vom kommunikativ konstruierten der Systemtheorie (vgl. Luhmann und Farzin weiter oben, Abschnitt I) markant unterscheidet: "Personalität ist offenbar zunächst ein formaler Grundzug unserer leibhaften Existenz, welche zwischen körperlichem Sein und dem Zwang, dieses körperliche Sein zu beherrschen, das heißt es zu haben, einen Ausgleich finden muss. (...) Person ist also durch ihr Verschränktsein in ein körperliches Ding und einen sozialen Sachzusammenhang nicht ohne weiteres aus der Welt der Sachgüter herausgehoben. Alle uns vertrauten begrifflichen Unterscheidungen zur Bestimmung ihrer Eigenart (wie z.B. Subjektivität, Selbst-Bewusstsein etc., M.W.) sind vielmehr eine späte Errungenschaft, die eine Fülle archaischer Deutungen hinter sich gelassen hat" (Plessner 1961, S. 69 f.).

Die Zusammenschau der beiden Perspektiven, der systemtheoretischen wie der Plessners, könnte helfen, die vernachlässigte Seite einer wichtigen und auch in der Praxis nötigen Unterscheidung - der Unterscheidung zwischen Kommunikation und Transfer - in der Analyse sozialer Netzwerke stärker mit einzubeziehen. Und auf der Basis stärkerer Aufmerksamkeit für das Physisch-Materiale, für die Körperlichkeit, kann es gelingen, beide Ebenen, die ich hier in ihrer Differenz herausarbeiten wollte, auch als "Einheit zweier heterogener Entitäten", "die sich in ihrer Divergenz gegenseitig fordern" (siehe oben), also in ihrer Verschränkung zu betrachten. Die bildet nichts weniger als das Markenzeichen Sozialer Arbeit.

Literatur
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Über den Autor

Mag. phil. Meinrad Winge, Jg. 1954
meinrad.winge1@utanet.at
Lektor an der FH St. Pölten (Studiengang Sozialarbeit); nach Studium katholischer Theologie/Germanistik und 10jähriger Tätigkeit in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit seit 16 Jahren hauptberuflich nachgehende Familienarbeit im Auftrag der Jugendwohlfahrt (Sozialpädagogischen Familienhilfe des Vereins "RETTET DAS KIND" NÖ) in Niederösterreich; Systemischer Familientherapeut und Supervisor.